New York 1924: Emanuel Lasker – Psychologie oder starkes Schach?
1894 wurde Emanuel Lasker Weltmeister. Zu diesem Zeitpunkt hatte er zwar eine Reihe von Wettkämpfen gegen starke Spieler der damaligen Zeit gewonnnen, aber noch kein großes internationales Turnier. Lasker ging den direkten Weg zur Weltmeisterschaft: Er forderte den amtierenden Weltmeister Wilhelm Steinitz zum Zweikampf heraus, besiegte ihn und blieb die nächsten 27 Jahre Weltmeister, bis er seinen Titel 1921 an Capablanca verlor.
Ein junger Emanuel Lasker | Foto: Cleveland Public Library
Doch seit Lasker Weltmeister geworden ist, zerbrechen sich Kollegen, Rivalen, Fans und Kritiker den Kopf, warum Lasker so erfolgreich spielt. Er behandelt die Eröffnung oft nachlässig und ist weder ein großer Theoretiker noch ein Freund des Eröffnungsstudiums. Er ist kein brillanter Angreifer wie Aljechin, ihm fehlt die technische Souveränität von Capablanca und die positionelle Klarheit von Rubinstein. Allerdings ist er ein phantastischer Verteidiger und es gibt eine verblüffend große Zahl von Partien, in denen er klar schlechter oder sogar auf Verlust stand, aber am Ende doch noch gewann.
Das hat auch Richard Reti festgestellt und das hat ihn in New York bei einer Charakterisierung der "Meister des Schachs" zu einer kühnen Behauptung veranlasst:
Als ich Laskers Turnierpartien studierte, erkannte ich, dass er ein dauerndes, zunächst unbegreiflich erscheinendes Glück hat. Es gibt Turniere, in denen er Erster war, fast alle Partien gewann, aber ungefähr in jeder zweiten Partie auf Verlust stand. Es ist eine nicht zu leugnende Tatsache: Lasker legt Partien immer wieder schlecht an, kommt hundertmal in Verluststellung und gewinnt doch. Die Hypothese dauernden Glücks ist zu unwahrscheinlich. Ein Mann, der dauernd solche Erfolge erringt, muss eine überraschende Kraft besitzen. Woher dann so oft die schlechten, die Verluststellungen? Es bleibt nur eine Antwort, die nur bei oberflächlicher Betrachtung paradox klingt: Lasker spielt oft absichtlich schlecht.
Ihm ist der Kampf der Nerven das Wesentliche, er sucht durch das Medium der Schachpartie in erster Linie die Psyche des Gegners zu bekämpfen. Er sucht nicht die objektiv besten Züge zu spielen, sondern die dem jeweiligen Gegner unangenehmsten.
Richard Reti
Das ist einprägsam formuliert, aber lässt die Frage offen, wie man dauerhaft großen Erfolg haben kann, wenn man "absichtlich schlecht" spielt. Tatsächlich sprechen Partien, wie die gegen Geza Maroczy in Runde sieben des Turniers in New York oder auch Laskers Sieg gegen Aljechin in Runde drei des Turniers in New York (und zahllose andere Partien Laskers), eine ganz andere Sprache. Sie zeigen, wie stark Lasker spielt und warum er nicht umsonst 27 Jahre lang Weltmeister war und auch mit 55 Jahren noch zu den besten Spielern der Welt gehört.
Gegen Maroczy hatte Lasker Schwarz und folgte nach 1.e4 mit 1...Sf6!? dem Vorbild Aljechins, was zeigt, wie schnell Lasker aktuelle Ideen aufnimmt und für sich nutzt.
Die Partie ging dann jedoch rasch in eine Variante der Französischen Verteidigung über und auch hier bewies Lasker Originalität und behandelte die Stellung ungewöhnlich, aber stark. Laskers Spielverständnis zeigte sich in dieser Partie auch darin, dass seine Figuren schon bald nach der Eröffnung wie von Zauberhand geführt auf den "richtigen" Feldern standen und schnell lebendig wurden, als Maroczy auf der Suche nach Angriff die eigene Stellung zu sehr schwächte.
Lasker wehrte den weißen Angriff mühelos ab und brachte die Partie danach präzise und taktisch genau zum Abschluss.
Laskers Stil mag nicht einfach zu enträtseln sein, aber "absichtlich schlecht gespielt" hat er gegen Maroczy sicher nicht. Es wirkt vielmehr so, als ob Reti die Kraft der vielen ungewöhnlichen Konzepte in Laskers Partien – wie zum Beispiel ...f6 im Franzosen – unterschätzt. Denn gegen Maroczy hat Lasker mit Sicherheit durch starkes Spiel und nicht durch Psychologie gewonnen.
Mit diesem Sieg übernahm Lasker auch die alleinige Tabellenführung. Mit 4½ Punkten aus sechs Partien liegt er einen halben Punkt vor Capablanca, Aljechin und Reti.
Capablanca begann das Turnier in New York mit vier Remis und einer Niederlage, aber brillierte dann in Runde sechs gegen Tartakower im Turmendspiel. In Runde sieben kam der Weltmeister anschließend gegen Yates zu seinem zweiten Sieg in Folge. Dabei setzte er seine Springer virtuos in Szene.
Dawid Janowsky werden diese Springermanöver vermutlich nicht allzu sehr beeindruckt haben. Schließlich ist der Franzose seit Jahren für seine Liebe zu den Läufern bekannt. Wie geschickt er diese Leichtfiguren behandeln kann, zeigte er in seiner Partie gegen Efim Bogoljubow.
Richard Reti griff mit Weiß einmal mehr zu 1.Sf3 und spielte die Eröffnung im Stil der Hypermodernen. Aber das Mittelspiel behandelte er dann klassisch und zeigte, warum ein Springer am Rand oft schlecht steht.
Alexander Aljechin und Frank Marshall genießen beide den Ruf, ausgezeichnete Angriffsspieler mit einem Gefühl für dynamisches Figurenspiel zu sein. Ihre Partie entwickelte sich dann auch schnell zu einem faszinierenden taktischem Schlagabtausch, in dem Marshall am Ende allerdings ein paar gute Chancen versäumte.
Ergebnisse der 7. Runde
G. Maroczy 0-1 Em. Lasker
J.R. Capablanca 1-0 F. Yates
E. Bogoljubow 0-1 D. Janowsky
R. Reti 1-0 Ed. Lasker
A. Aljechin ½-½ F. Marshall
Spielfrei: Savielly Tartakower
Stand nach sieben Runden
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